Das Wort zum EM-Spieltag #6: Deutschland gegen Ungarn

 "Julian, Sandro, jetzt stellt das Longboard ab und hört mir zu"

Madame Descartes-Mauvaises hatte ihre strenge Stimme benutzt. Als offizielle Wahrsagerin des DFB musste sie in diesem Moment Autorität zeigen. Denn der Bundestrainer und sein Assistent hatten offensichtlich keine Lust auf diesen Pflichttermin. Im Gegensatz zu den strunzblöden Orakelviechern, die alle auf Schottland als Sieger getippt hatten, wusste Descartes-Mauvaises mit ihrer stabilen Vorhersage "Kann was werden. Kann aber auch nichts werden" einigermaßen zu punkten und den Job zu landen.

Die erste Tarotkarte offenbart sich auf dem runden Tisch aus dunklem Kirschbaumholz. Zwei Fußbälle sind zu erkennen, umgeben von grünem Rasen.

"Ja geilo, 2-0, alles klar!" grölt der noch leicht angeheiterte Nagelsmann. "Nehm ich. Ich bin dann mal weg, Tantchen. Check24 hat mir ein Sonder-Trikot rückseitig mit SUPERCHECKER JULE, 4EVER #1 beflockt. Der Poldi platzt vor Neid. Tschüssi"

"Hiergeblieben. Die zwei Bälle des Schicksals stehen bloß für den zweiten Spieltag. Oh, das ist das spärlich gefüllte Gefäß der Hoffnung", weist MDM auf die nächste Karte mit dem fast leeren Glas in der Mitte.

"Quatsch, das ist das leergesoffene Bierglas des Kantersiegs! Achtelfinale! Sandro, mach noch 'ne Runde frisch!"

Die Wahrsagerin seufzte. Nur Jürgen Klinsmann, der all ihre Vorhersagen mit einem "Hanoi, des isch ja cool" dauerbegrinste, war ihr als Bundestrainer ähnlich auf die Nerven gegangen. 

"Seht her! Das offene Abflussrohr der Enttäuschung wird dieses Spiel beeinflussen" interpretiert das DFB-Orakel die dritte Karte und legt rasch darauf die letzte offen. Sie zeigt einen einsamen Wanderer mit Stecken und Stab, der auf einen Abgrund zuläuft.

"Okie-Dokie. Wird halt scheiße laufen für die Gulaschis. Und das letzte Bild ist... Moment... (zeichnet mit einem Kuli die Worte "hier nach Budapest" über den Abgrund), tada: der Ungar, wie er traurig nach Hause trabt"

"Nein, nein, nein. Ihr seid zu blind um zu sehen. Okay, ich fass es euch in Reimform zusammen:

Im zweiten Spiel, erwart' nicht viel
Läuft es nicht ein bisschen scheiße
Früh enden kann für euch die Reise

"Das gebt ihr dem Rudi weiter und jetzt raus, ihr Lümmel, mir dröhnt der Kopf".

Auf Nachfrage von Direktor Völler gibt Nagelsmann zu Protokoll:

"Boah, die alte bitch hatte null checkung, wollte uns nur hart auf die Parade rainen. Sieg geht klar, die flexen wir aus dem Stadion. Dann eine Woche relaxen, geht ja um nix mehr bis zum Achtelfinale. Verdammt, jetzt hab ich mein Longboard bei der Alten stehen lassen. Ich geh da nicht nochmal hin."

Eine Geschichte mit einer mahnenden und warnenden Botschaft. Dem möchte ich mich bei aller schönen und berechtigten Euphorie anschließen. Gegen die Ungarn kann das nicht nochmal wie gemalt laufen. Der Schotte hat ja nicht einmal richtig aufs Tor geschossen, das kann gar nicht erneut so kommen. Und die Wahrsagerin hat nicht ganz unrecht. Bei erfolgreichen Turnieren ging das zweite Spiel gerne ein bisschen bis voll in die Hose. 

Dagegen das frühe Ausscheiden bei der WM 2018 (Sieg gegen Schweden dank spätem Kroos-Freistoß), WM 2022 (unerwartetes 1:1 gegen Spanien) und der EM 2021 (4:2 edle Ronaldokränkung). Von daher: Ich bin bereit zu leiden, wenn es am Ende hilft.

⚽️⚽️⚽️

Das war dann doch gehörig mühevoller. Mit Demut zieht die DFB-Elf ins Achtelfinale. Wobei ich den Ansatz, den Gegner die eigene Verwundbarkeit gleich in der ersten Minute knallprall aufdecken zu lassen, jetzt nicht so prickelnd fand.

Vor dem 1:0 checkt Gündogan leicht Orban, der ins Stolpern gerät. Zwei Ungarn zeigen darauf ein entzückendes Synchronreklamierungs- und Abschaltballett, der deutsche Kapitän setzt nach, stochert an Gulasci vorbei zu Musiala, der die Kugel ins Netz wurschtelt. So geht es auch.

Wenn der Freistoß von Szoboszlai per Nachschuss noch reingegangen wäre und das Tor von Sallai nicht zurückgenommen worden wäre, hätte man dann Neuer weiterhin kritisiert? Rein rhetorische Frage, ich weiß.

Ungarn müsste kommen, Deutschland braucht nicht. Die Magyaren wissen, dass sie mit einer Situation den Ausgleich zimmern können und lassen den Deutschen weiterhin den Ball. Das zweite Tor wäre so wichtig, will jedoch nicht fallen.

Die Erlösung naht mit Mittelstädt über links. Feiner Flachpass in den Strafraum, der eine ganze Reihe Ungarn ins Leere laufen lässt, Gündogan vollendet freistehend und gekonnt. 2:0. Das ist der Deckel. Gepflegtes Zeitrunterspielen, Neuer darf noch mal die Social-Media-Blase aufpusten, Sané gefällt mir weiterhin nicht von seiner Spielweise her. Egal, wird sind durch.

 



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